Nichts wurde in Rhetoriker:innenkreisen im Wintersemester 2024/2025 so heiß diskutiert wie die Ringvorlesung Perspektiven Tübinger Rhetorik. Das Konzept denkbar simpel: Jede Woche referierten ein bis zwei Forschende (ganz gleich ob Doktorand:in, Post-Doc oder Professor:in) der Rhetorik über ihre aktuellen Forschungsprojekte. Rhetorikstudierende, Mitarbeitende des Seminars für Allgemeine Rhetorik und weitere Interessierte fanden sich dafür jeden Dienstag von 16–18 Uhr im Hörsaal 037 ein, lauschten den Vorträgen und hatten im Anschluss Gelegenheit, über das Vorgetragene zu diskutieren.
Die Ringvorlesung fungierte als eine Art Theoriewerkstatt, die Einblicke in die aktuelle Tübinger Rhetorik-Forschung ermöglicht. Gleichsam sollten die einzelnen Beiträge aber auch den Diskurs innerhalb des Faches anregen. Klar wurde über den Verlauf des Semesters vor allem die Offenheit des Rhetorikbegriffs, die unterschiedlichen Betrachtungsmöglichkeiten und immer wieder die Erkenntnis: Rhetorik ist tatsächlich ubiquitär und spielt in zahllosen Bereichen eine Rolle. Neben Vorträgen zu urrhetorischen Themen wie etwa der Toposanalyse oder der Lobrede begegnete den Zuhörenden auch Unerwartetes: Ausführungen über den taktischen Witz, gespenstische Rede oder aber die rhetorische Betrachtung engagierter Literatur.
Aus dem RHET AI konnten unsere Forschenden Fabian Erhardt, Markus Gottschling und Olaf Kramer an gleich drei der insgesamt 13 Vorlesungstermine referieren und somit einen Teil unserer wissenschaftlichen Arbeit vorstellen.
05.11.24 Dr. Fabian Erhardt: Rhetorische Wissens- und Erkenntnistheorie
„Warum möchte sich ausgerechnet die Rhetorik mit Wissen und Wissensproduktion beschäftigen?“
Diese Frage begegnete Fabian Erhardt in Reaktion auf seine Forschung zu Rhetorik und Wissen in den letzten Jahren immer wieder, wie er in seiner Vorlesung zu Rhetorischer Wissens- und Erkenntnistheorie ausführt. Um sie beantworten zu können, unternimmt Fabian Erhardt mit den Zuhörenden zunächst eine definitorische Reise und nähert sich dem Wissensbegriff an. Was ist eigentlich Wissen? Was verstehen wir darunter? Das kann und konnte in der Theoriegeschichte des Wissensbegriffs bisher nicht geklärt werden, wohl wurden aber Ansätze geboten.
Was Fabian Erhardt in seinem Vortrag aus verschiedensten dieser Ansätze kondensiert, ist die Tatsache, dass Wissen immer an Geltungsansprüche gebunden ist, welche wiederum kontextabhängig sind. Es gibt also keineswegs das eine Wissen. Stattdessen muss immer die Frage gestellt werden, welches Wissen in welchem Kontext relevant ist. Und genau an diesem Punkt kommt die Rhetorik ins Spiel, die solche Geltungsansprüche von Wissen in einem diskursiv-agonalen Raum verhandeln kann. Das lässt sich bereits in der antiken Sophistik als Praktik finden.
Hinter jedem Geltungsanspruch, der Wissen speist, stehen metabolische und systatische Wissensansprüche, so Fabian Erhardt in seinen Ausführungen. Während ein Wissensanspruch auf einer metabolischen Ebene andere Wissensansprüche ausschließt und sich damit in einem Ablöseprozess von ihnen befindet, schließt er sich auf einer systatischen Ebene an andere Wissensansprüche an und steht in einem Bindungsprozess mit ihnen. Innerhalb dieser Matrix können Geltungsansprüche – und damit in letzter Konsequenz Wissen – bestätigt oder falsifiziert werden. Doch das ist im Kern ein zutiefst rhetorischer Prozess, weshalb es von Bedeutung ist, Wissensgenese sowie Wissens- und Erkenntnistheorie auch aus einer rhetorischen Perspektive heraus zu betrachten, wie Fabian Erhardt in seiner Vorlesung mit Nachdruck deutlich gemacht hat.
21.01.25 Dr. Markus Gottschling: Die Rhetorik Künstlicher Intelligenz
Markus Gottschling widmet sich nicht nur dem Kerngeschäft des RHET AI Centers – der Verknüpfung von Rhetorik und Künstlicher Intelligenz –, sondern bringt mit raggae-esken Klängen, Hummern und Maschinengedichten auch allerlei denkwürdig-Unterhaltsames in seiner Vorlesung unter.
Seinen Ausführungen voran stellt er seine Grundthese: Dass es sich bei dem, was gemeinhin mit "Generativer KI" beschrieben wird, um ein rhetorisches System handelt und dass die Rhetorik selbst durch den Einfluss generativer KI transformiert wird. Die beiden sind also miteinander verschränkt, sodass sich ihre Entwicklungen gegenseitig bedingen. Diese Verschränkung beschreibt Markus Gottschling in Anlehnung an Gilles Deleuze und Félix Guattari als doppelte Artikulation. Hier kommt auch der Hummer ins Spiel, denn Deleuze und Guattari wählen in ihrem Buch Tausend Plateaus den Hummer mit seiner Doppelzange als das Sinnbild der doppelten Artikulation.
Auf einer basaleren Ebene arbeitet Markus Gottschling in seiner Vorlesung heraus, dass LLMs (Large Language Models) im Kern urrhetorisch arbeiten, indem sie darauf trainiert sind, das passendste, überzeugendste und wahrscheinlichste Wort in einem spezifischen Kontext auszugeben. Die Rhetorik jedoch blickt selbst auf eine Tradition von generativen Textverfahren zurück, die immer wieder in ihren Ansätzen als algorithmisch beschrieben werden können.
Nach weiteren Ausführungen zu rhetorischen Funktionsweisen in generativer KI schlägt Markus Gottschling schließlich die Unterscheidung von "Rhetoric of AI" (die Analyse gesellschaftlicher Diskurse rund um KI) und "Rhetoric with AI" (die Anwendung von KI als Werkzeug der Rhetorikforschung und Praxis) vor. Im Zuge dessen führt er auch noch den Begriff der Rhetorical AI Literacy an – einen Ansatz, den wir am RHET AI durch unsere Forschung und Arbeit in den letzten Jahren bereits stark verfolgt haben.
Am Ende von Markus Gottschlings Vorlesung bleiben den Zuhörenden nicht nur die unterhaltsamen Momente im Gedächtnis, sondern auch die Perspektiven und Möglichkeiten, die KI im Feld der Rhetorik bietet.
28.01.2025 Prof. Dr. Olaf Kramer: Rhetorik und Wissenschaftskommunikation
In der letzten Vorlesung des Semesters widmete sich Olaf Kramer schließlich thematisch nochmals der Basis unserer Arbeit am RHET AI Center: Der Frage nach Rhetorik und Wissenschaftskommunikation. In den letzten Jahren hat in der Wissenschaftskommunikation ein Wandel stattgefunden: Vom Knowledge Deficit Model hin zum Public Engagement Model.
Beim Knowledge Deficit Model wird zunächst einmal von einem Wissensmangel der Adressat:innen ausgegangen, der durch Wissenschaftskommunikation beglichen werden soll. Das Ziel ist dabei also einer uninformierten Zielgruppe spezifisches Wissen zu vermitteln. In der Praxis scheiterte das Knowledge Deficit Model aber immer wieder an interessensgeleiteter Kommunikation und Rezeption, sowie an dem schieren Overload an Informationen und Komplexität unserer Wissensgesellschaft. Beim Public Engagement Model hingegen liegt der Fokus nicht auf der bloßen Weitergabe an Wissen, sondern unter den Stichworten Communicating as Listening auf dem gemeinsamen Austausch zwischen Wissenschaftskommunikator:innen und der Öffentlichkeit. Das Ziel ist dabei ein Dialog, der Wissen erklären, (re-)kontextualisieren, Partizipation ermöglichen, die Prozesshaftigkeit des Wissenschaftssystems vermitteln und Unsicherheiten eingestehen kann.
Spezifisch rhetorisch wird dieser Ansatz, indem er um die vier Ebenen Kommunikator:in, Adressat:in, Kontext und Situation erweitert wird. Begriffe, die im rhetorischen System wohlbekannt und mit zahlreichen theoretischen Konzepten verknüpft sind. So spielt auf Kommunikator:innenebene beispielsweise das Ethos eine tragende Rolle. Allgemein gesprochen kann Wissenschaftskommunikation – so Olaf Kramer in seiner Vorlesung – als Rekontextualisierung von Wissen begriffen werden.
In Zeiten, in denen Wissen umkämpfter und polarisierter denn je scheint, braucht es Möglichkeiten, die diesen Tendenzen entgegenwirken. Die rhetorische Wissenschaftskommunikation hat hier einige Ansätze zu bieten, wie Olaf Kramer demonstriert. So muss beispielsweise daran gearbeitet werden, Common Ground kommunikativ auszuhandeln, und neue Verbindungen zu schaffen, wie sie etwa eine Bridging Rhetoric nach John Dryzek herstellen kann. Auch die Theorie einer Invitational Rhetoric nach Foss und Griffin kann für die rhetorische Wissenschaftskommunikation fruchtbar sein.
Olaf Kramers Vorlesung bestärkt auch uns am RHET AI darin, den Public-Engagement-Ansatz in der Wissenschaftskommunikation weiter zu verfolgen und dem umkämpften Wissen auf dem Gebiet der KI mit rhetorisch-strategischen Lösungen entgegenzuwirken.
Als RHET AI freuen wir uns darüber, dass wir im Wintersemester 2024/25 in der Ringvorlesung so zahlreich vertreten sein durften. Wir nehmen nicht nur das Interesse der Zuhörenden an dem Einblick in unsere Forschung mit in die weitere Arbeit, sondern auch die spannenden Ansätze der anderen Vortragenden sowie die Fragestellungen aus den Diskussionen im Anschluss an die Vorträge.